Der Verlust eines geliebten Menschen verändert alles: das eigene Leben, die Beziehungen, sogar die Sicht auf die Zukunft. Für Irene Kasapis begann dieser Weg mit dem frühen Tod ihrer Mutter, später folgte auch der Abschied vom Vater. In ihren Texten und in ihrem Buch beschreibt sie Trauer nicht als etwas, das überwunden werden muss, sondern als Begleiterin, die bleibt. Im Interview spricht sie offen über Schmerz, Neuanfänge und den Mut, aus der Trauer heraus neue Wege zu gehen.
Tod & Trauer: Interview mit Irene Kasapis
Irene, du hast deine Mutter schon in jungen Jahren verloren. Wie hat dieser frühe Verlust dein Leben geprägt?
Das ist eine sehr gute Frage mit einer sehr vielschichtigen Antwort: Dieser frühe Verlust, ich war ja erst 16 Jahre alt, als meine Mutter starb, prägt mich bis heute und wird mich bis zu meinem Lebensende prägen.
Ich bin mir nämlich sicher, dass, wäre sie nicht gestorben, ich heute ein ganz anderes Leben führen würde. Ich würde vielleicht eher in einem klassischen Rollenbild (Vater, Mutter, Kind, Haus & Hund) leben – einfach, weil ich das so vorgelebt bekommen habe. Ich weiß natürlich auch nicht, wie das Verhältnis zu meiner Mutter heute wäre. Ich kannte sie ja nur bis zum meinem 16. Lebensjahr und sehe vieles in unserer Beziehung durch eine rosarote Brille. Vielleicht wäre ich gar nicht so eng mit ihr, wie wir das damals waren? Ich weiß es nicht und werde es niemals erfahren.
In der Pubertät hat mich der Tod meiner Mutter in meiner Freundesclique schon auch als Außenseiter dastehen lassen. Meine Freunde:innen und ich haben nie über den Tod meiner Mutter geredet. Ich wollte im Außen so tun, als wäre alles “wie immer”, aber nur, weil ich das von meiner verbleibenden Familie so vorgelebt bekommen habe. Ich hatte auch z. B. nie jemanden, der mich in die ganzen weiblichen Themen, wie erste Blutung, BH-Kauf eingeführt hat oder an den ich mich mit diesen Themen wenden durfte, so musste ich mir das alles selbst beibringen oder mich über meine Freundinnen/die Bravo selber aufklären.
Innere Beziehungsmuster
Was mir auch bis heute bleibt, ist das Suchen nach einer Mutterfigur in älteren Frauen oder Freundinnen. Ich glaube schon, dass mein Leben, was auf den Tod meiner Mutter folgte, deshalb von so vielen Umbrüchen und Neuanfängen geprägt ist, weil ich sie eben so früh verloren habe. Sowas prägt mich bis heute und ich habe einen sehr ungesunden Attachment-Style entwickelt: Lieber bleibe ich allein, als nochmal so sehr verletzt zu werden, wie der Tod meiner Mutter mich verletzt hat.
In dem Moment, als meine Mutter starb, endete ja auch noch ganz vieles andere: ein Stück meiner Jugend, meine Zukunft mit ihr, mein ganzer normaler Alltag, das bis jetzt mir bekannte Familiensystem aus 5 Personen, war auf einmal reduziert auf nur noch 4.
Du schreibst, dass die Trauer damals unter den Teppich gekehrt wurde. Was hat dieses Schweigen mit dir gemacht?
Das Schweigen hat mit mir gemacht, dass ich 1.) 20 Jahre lang nicht getrauert habe – einfach, weil es mir in der Familie nie vorgelebt wurde, über Gefühle im Allgemeinen zu sprechen. So wurde ich psychisch krank und hatte erst einen Burn-out, dann eine depressive Episode mit Suizidgedanken – das war eine sehr dunkle Zeit, die ich nie wieder in meinem Leben erleben will und auch keinem wünsche. Was ich dann nämlich erstmal lernen durfte, war, dass ich überhaupt Gefühle habe und nicht immer (weiter) funktionieren muss und dass diese Gefühle da sein dürfen.
und eine Berechtigung haben.
Vor kurzem ist auch dein Vater gestorben. Hat sich dein Blick auf Trauer dadurch noch einmal verändert?
Ja, definitiv. Mir ist nochmal sehr deutlich geworden, wie schnell das Leben im Allgemeinen vorbei sein kann. Mir ist auch klar geworden, dass Trauer ein noch viel wesentlicher
Bestandteil meines Lebens ist, als ich bis dahin dachte. Was mir der Tod meines Vaters auch ganz deutlich im Moment widerspiegelt, ist auf der einen Seite natürlich, dass mein Vater nicht mehr da ist, dass ich ihn nicht mehr anrufen oder besuchen kann, sondern auf der anderen Seite auch, dass mit ihm ein Teil meiner Identität gestorben ist.
Im Moment fühle ich mich zum Beispiel nicht mehr in meiner Heimatstadt zugehörig, hinterfrage meinen Wohnort, meinen Kleidungsgeschmack, meine Frisur, meine Lieblingsessen – einfach, weil er als Spiegel meiner selbst fehlt. Er war ja 44 Jahre immer präsent in meinem Leben, auch wenn wir, wirklich kein gutes, geschweige denn herzliches Verhältnis hatten, war er einfach immer da, und wenn so eine Beständigkeit wegfällt, dann macht das auch ganz viel mit einem selber.
Ich wünschte, ich könnte hier jetzt auch eine mega positive Nachricht schreiben, so ala “Es hat alles einen Sinn” oder “ich wandle meinen Schmerz in Texte um und dadurch entsteht was Schönes für andere“ – die Wahrheit ist aber einfach: Trauer tut scheiße weh.
Was ich aber durch meinen langen Trauerprozess gelernt habe ist, dass es möglich ist einen Verlust ins Leben zu integrieren. Ich schreibe hier bewusst nicht “zu verarbeiten”, weil sich das so anhört, als hätte die Trauer einen Anfang und einen Stopp und verfolgt einen Plan –Spoiler-Alert: tut sie nicht.
Ich werde bis zum Rest meines Lebens an bestimmten Tagen (Geburtstage, Todestage, Ostern oder auch kleine Begebenheiten, wie z. B. wenn ich das Autokennzeichen meines Vaters sehe) traurig sein und das ist okay. Was ich nach dem Tod meines Vaters allerdings anders gemacht habe, als nach dem Tod meiner Mutter ist, dass ich mir eine Online-Trauergruppe gesucht habe, und das ist wirklich ein Game Changer!
Ich war ja mit dem Verlust um meine Mutter komplett alleine – 20 Jahre lang – und wenn ich jetzt mit den anderen Teilnehmern:innen in einem Zoom-Raum sitze und höre, dass es anderen ähnlich geht, wie mir, dann fühle ich mich nicht so alleine. Trauer kann halt auch schon überfordernd sein, da ich ja nicht nur traurig bin, sondern manchmal halt auch einfach stinkewütend oder ungläubig, dass mein Vater überhaupt tot ist, oder manchmal sehne ich mich auch danach bittersüße Geschichten über meinen Vater und/oder meine Kindheit zu erzählen und da hilft es mir sehr, wenn jemand zuhört.
Der Zoom Raum ist ein safe space, das heißt dort darf ganz viel geweint werden ohne dass gleich jemand sagt “Jetzt wein doch nicht” / “Ist doch schon so lange her”. Nein, hier darf ich meine Trauer in Form von Tränen zeigen und das wird nicht abgewertet oder versucht weg zu machen. Das ist sehr heilsam. In dieser Online Gruppe machen wir dann am Ende auch immer noch eine Kreativübung, die mich aus meinem Kopf und wieder ins Jetzt holt, das hilft mir auch immer sehr.
Beziehung zur Trauer
Du beschreibst Trauer oft als eine Art lebenslange Begleiterin. Sie ist eine Figur, mit der du im Dialog stehst. Wie hat sich diese „Beziehung“ über die
Jahre entwickelt?
Als Autorin habe ich ja die Freiheit, meine Trauer genau so darzustellen, wie du geschrieben hast “als Figur”, die mich auf Schritt und Tritt begleitet, ungefragte Kommentare von sich gibt und sogar bei mir einzieht, um mit mir die Lowlights (meine schwersten Trennungen) nochmal neu zu erleben. Darüber habe ich ja mein Buch geschrieben und in dem Prozess des Buchschreibens, ist mir dann aufgefallen, dass in diesen Geschichten, also in den Geschichten über meine schwersten Verluste – aus einer Meta Perspektive, die mich s e h r viel innere Arbeit, Abstand und Zeit gebraucht hat, um sie zu erkennen – eigentlich Lernerfahrungen, persönliche Eigenschaften stecken, die ich immer und immer wieder in meinem Leben anwenden werde. Zum Beispiel steckt in einem wahnsinnig romantischen Kennenlernen in einer Bar auf Bali und dem ersten Kuss im strömenden tropischen Regen mit einem Ex-Partner von mir, ein wahnsinniger Mut.
Das war mein erster Langstreckenflug, das erste Mal nur mit einer Freundin auf Reisen, das erste Mal, dass ich eine komplett fremde Kultur kennenlernen durfte, das erste Mal in meinem Leben, wo ich komplett frei war. Dazu gibt es ein Zitat von Dr. Joe Dispenza, was genau beschreibt, was
ich fühle, wenn ich auf meinen Trauerprozess zurückblicke:
Die Beziehung zu meiner Trauer hat sich über die letzten 30 Jahre sehr verändert, wir sind zusammen erwachsen geworden. Von einem Gefühl, was ich nicht fühlen konnte, weil es ja mir niemand vorgelebt hat, zu einer Zeit, in der ich mich nur über meine Trauer identifiziert habe und einen eigenen Podcast und Blog über Trauer hatte und nur Schwarz getragen habe, dann habe ich die Trauer vor die Tür gesetzt und mir gedacht: “So das war es jetzt mit uns!”, nur dass sie dann wieder vor der Tür stand und bei mir eingezogen ist. Das war ein ganz schönes Hin und Her in
unserer Beziehung, und jetzt würde ich sagen, ich habe eine gesunde Beziehung zu meiner Trauer und ich habe gelernt, dass Trauer wirklich Teil des Lebens ist und bis zum Ende meines Lebens eine Begleiterin sein wird.
Das kann ich jetzt gut oder schlecht finden, es ist einfach eine Tatsache, und Verluste jeglicher Art gehören zum Leben dazu.
Gibt es Momente, in denen dir die Trauer heute eher Trost spendet als Last ist?
Ja, auf jeden Fall, und um hardcore ehrlich zu sein, muss ich meiner Trauer auch sehr dankbar sein. Ich habe durch meine Trauer das Schreiben entdeckt, ich habe ein Buch geschrieben und habe über das Thema Schreiben ganz wichtige Menschen kennengelernt, die meine Freunde geworden sind.
Da ich ja ein großer Fan von dem “Suchen nach Heilung im Außen gegen meine Trauer” war, bin ich mit Delfinen in Ägypten geschwommen, habe mir auf einer Ayurveda Kur in Indien die Seele aus dem Leib gekotzt, bin in Sri Lanka mit Walen geschwommen, habe Yoga Retreats in Griechenland, Österreich und Italien gemacht. Alles Erfahrungen, die ich ohne meine Trauer nicht gemacht hätte.
Richtigen Trost, finde ich in der Erinnerung an eine sehr behütete, stabile, finanziell abgesicherter Kindheit, an die ich oft denken muss und aus der ich zum Beispiel die Liebe zu Büchern mitgenommen habe, weil meine Mutter mir abends immer zum einschlafen vorgelesen hat. Meine Oma hat immer gekocht und mir ein Apfelkuchen Rezept beigebracht, dass ich heute immer noch backe und dabei an sie denke. Von meinem Vater habe ich den Geschäftssinn geerbt und meine Liebe für Griechenland.
Schreiben als Weg

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Wann hast du angefangen, das Schreiben als Werkzeug im Umgang mit Trauer zu nutzen?
Das war während der Pandemie. Ich war gerade mit 40 Jahren zum ersten Mal in meine erste eigene Wohnung gezogen und habe das Buch “The Artist’s Way – A spiritual path to higher creativity“ von Julia Cameron durchgearbeitet. Eine der Aufgaben aus dem Buch ist es, jeden Tag, am besten morgens, zu schreiben. Einfach alles, was einem so in den Sinn kommt. Ich habe damit angefangen und bis heute nicht aufgehört.
Schreiben hilft mir, mich selber zu reflektieren, Erlebtes festzuhalten und vor allem, und das war und ist mit meiner Trauer so, das Unausgesprochene auszusprechen und damit in meinem Inneren Platz zu schaffen. Ich habe ja 20 Jahre lang nicht über die Trauer gesprochen oder sie gefühlt, und da waren noch sehr viele offene Geschichten aus meinem Leben in mir, die ich durch das Aufschreiben verarbeiten und eine Form von closure finden konnte.
Auch jetzt noch schreibe ich jeden Morgen und bin dankbar für diese Zeit, die nur für mich ist, es ist wie ein kleiner Check-in mit einer besten Freundin, die immer nur zuhört. Die Freundin ist in dem Fall das leere Papier und mein Stift bin ich.
In deinen Texten sprichst du mit deiner Trauer, streitest mit ihr, schließt Frieden. Warum hast du diese Form gewählt und wie hilft sie dir im
Umgang mit Verlust?
Ich habe diese Form nicht bewusst gewählt, sondern für mich hat es sich eine Zeit lang in meinem Leben wirklich so angefühlt, dass die Trauer neben mir, mit mir spazieren geht und in meine Wohnung gezogen ist, ohne Einladung und ohne Mietvertrag und natürlich ohne Miete zu zahlen.
Daraus ist die Instagram Beitrags Reihe “Gespräche mit der Trauer” entstanden und aus diesen wiederum mein Buch. Meine Trauer ist nämlich im Gegensatz zu mir eine Quasselstrippe 🙂 Das ist natürlich eine Form von “ich bringe Distanz zwischen mich und das Gefühl der Trauer”. Da ich diese ja so viele Jahre lang mit mir rumgetragen hatte und sie sich wie ein Berg in mir angefühlt hat, war es ein wichtiger Schritt in meinem Trauerprozess um meine Mutter diese Distanz und diese Figur zu schaffen.
Die Trauer hat mich sozusagen vor dem Leben meines Lebens geschützt. Bis dann halt auch mein Leben bei mir eingezogen ist und mir klar gemacht hat, dass der Kühlschrank sich nicht von alleine füllt und es extrem gesund für mich wäre, wieder unter Menschen zu kommen.
Trauer im Alltag und in der Gesellschaft
Nach dem Tod deiner Mutter wurde kaum über Trauer gesprochen. Hast du das Gefühl, dass sich der gesellschaftliche Umgang damit in den
vergangenen 30 Jahren verändert hat?
Ja und nein. Ich sehe natürlich die vielen Kanäle in den Sozialen Medien, die sich um die Themen Endlichkeit, Trauer und Tod drehen, und diese sind sehr wichtig, um eine Veränderung oder auch nur ein Umdenken anzustoßen.
Die Realität sieht aber leider so aus, dass viele Menschen mit dem Thema Trauer überfordert sind und nicht wissen und nie gelernt haben, wie man mit dem Thema Trauer, sich selber in der Trauer und mit Menschen mit Trauererfahrung umgehen soll. Und da passieren schlimme Sachen, wo Menschen, die einen Verlust erlitten haben, Sätze an den Kopf geschmissen werden, wie “Trauerst du immer noch?” und ähnlich schlimmes Gaslighting.
Was wünschst du dir im Alltag – in Freundschaften, im Beruf, in der Öffentlichkeit – für einen offeneren Umgang mit Trauer?
Also es ist so, dass jeder:e das Recht auf einen individuellen Trauerprozess hat. Ich kann niemanden zwingen darüber zu sprechen. Bei Männern zum Beispiel ist Wut oft auch eine Ausdrucksform von Trauer, aber das nur mal so am Rande.
Ich würde mir wünschen, dass ein Sprechen oder ein Anerkennen über einen Verlust zur Norm wird. Als ich nach dem Tod meines Vaters zurück an meinen alten Arbeitsplatz kam, habe ich mir so sehr gewünscht, dass da eine Karte auf meinem Platz liegt mit ein paar lieben Worten. Eine Freundin hat mir erzählt, dass sie nach einem Verlust von ihrer Chefin eine Kerze “Für dunkle Stunden” und einen Schal “gegen Kälte” geschenkt bekommen hat, das fande ich total schön, weil damit wird der Verlust anerkannt und die Wahl darüber zu sprechen, liegt bei dem Mensch mit Trauererfahrung.
Ich bin im übrigen auch der Meinung, dass das Wort “Trauernde” abgeschafft wird. Das ist mir ein viel zu krasses Label für etwas, was jeden von uns früher oder später beschäftigen wird. Ich bevorzuge deshalb die Bezeichnung “Mensch mit Trauererfahrung”, da ich ja immer noch Mensch bleibe und weiterlebe UND gleichzeitig trauere. Ich finde auch, dass Trauer raus aus dieser Tabu-Ecke sollte.
Ich verstehe ja, dass die Menschen nach dem ersten und den zweiten Weltkriegen “weitermachen “ mussten, um überleben zu können, und das war für die damalige Zeit auch in Ordnung. Aber für heutzutage, wo die Themen mentale Gesundheit und Erkrankungen, wie Depressionen und Burn-Out immer mehr Menschen betreffen und sich Systeme, wie die Kirche und die Politik nicht mehr als Halt gebend erweisen und die Menschen diesen Halt in Coaches suchen, die nie eine fundierte Ausbildung in diesem Bereich gemacht haben, wird es immer wichtiger, dass die Menschen lernen mit ihren Gefühlen umzugehen und diese zu fühlen und im besten Falle ein kreatives Outlet dafür finden. Denn der Prozess, etwas zu schaffen, nur um des Erschaffens willen und weil irgendjemand eine Idee dazu hatte, wird in der heutigen Leistungsgesellschaft, wo nur Dinge im Außen wie Gehalt, Auto und Haus zählen, immer wichtiger.
Dazu kommt noch die KI, von der wir alle noch nicht so genau wissen, wohin sie uns führt. Deshalb rufe ich hiermit für mehr Kreativität auf. Und sei es nur ein Strich, ein Wort auf einem weißen Blatt Papier.
Praktische Tipps & Rituale in der Trauer

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Viele Menschen erleben gerade den ersten Verlust eines geliebten Menschen. Welche Schritte haben dir geholfen, nicht im Schmerz stecken zu bleiben?
Also erstmal möchte ich betonen, dass Schmerz zu einem Verlust dazu gehören kann und wenn jemanden stirbt oder man sich von jemanden trennt, dann tut das erstmal weh. Das ist normal und gehört dazu. Ich kenne allerdings auch Geschichten, wo Menschen diesen Schmerz nicht fühlen, nicht fühlen wollen oder nicht können, und auch das ist voll okay.
Ich selber bin ja über den Verlust meiner Mutter im Schmerz stecken geblieben und habe mir immer eine Hilfe, Ratschläge, Erlösung und Heilung im Außen gesucht. Sehr oft sogar von Menschen, die dafür einfach nicht qualifiziert waren oder wo der Rahmen einfach nicht der war, den ich gebraucht hätte. Generell würde ich von Coaching Programmen, die für über 1000 Menschen gemacht sind, abraten.
Was mir wirklich geholfen hat, war eine Therapie zu machen, und zwar eine Gestalttherapie. Auch hier gibt es sehr viele unterschiedliche Richtungen und es hat eine Weile gedauert, bis ich den sich für mich richtig anfühlenden Ansatz gefunden hatte. Denn in der Therapie geht es nie darum, irgendwie besser zu werden. Meine Therapeutin ist mit mir z. B. sehr viel zurück in die Vergangenheit gegangen, und durch die Gespräche mit ihr habe ich sehr viele Antworten auf Fragen bekommen, auf die ich alleine nie gekommen wäre. Es tut einfach sehr gut, einen Spiegel in Form eines Menschen vor sich sitzen zu haben, der/die einfach nur da ist, zuhört und auch manchmal Übungen macht.
Gibt es kleine Rituale oder Alltagsdinge, die dir Halt geben, wenn die Trauer stärker wird?
Oh ja, sehr viele sogar. Auf jeden Fall meine Trauer Online Gruppe und meine Therapeutin. Mit jemanden zu sprechen hilft mir sehr. Da aber beides an Termine gebunden sind und die Trauer sich nun mal nicht an Zeiten hält, habe ich auch für zu Hause ein paar Rituale entwickelt:
- Den Verstorbenen Raum einräumen:
Ich habe einen Schrank in meinem Wohnzimmer stehen, in dem meine absoluten Lieblingsbücher stehen und in diesem Schrank habe ich zwei Bilderrahmen mit je einem Bild von meiner Mutter und Oma und ein Bild von meinem Vater und mir. Wichtig war für mich, dass der Schrank eine Tür hat und ich so selber bestimmen kann, wann ich die Bilder sehe.
Von meinem Vater habe ich eine – für meinen Geschmack leicht kitschige – Standuhr geerbt. Diese hat in meiner Wohnung ein pinkes Wandregal bekommen und somit einen extra Platz, der mehr ich bin (pink), dazu habe ich eine Postkarte mit einem Spruch auf Griechisch gehängt. Zu besonderen Tage, wie seinem Todestag, stelle ich dort noch eine kleine Vase mit einer Blume hin. Die Uhr müsste man eigentlich regelmäßig aufziehen, damit sie auch tickt und zu jeder vollen Stunde bimmelt, das mache ich aber nicht, weil mich das zu sehr an
die Vergangenheit und glückliche Kindheitstage erinnert. - Eine Kerze anzünden:
Ich zünde im Herbst und im Winter am Abend immer eine oder mehrere Kerzen an (unabhängig von der Adventszeit), da ich keine/n Kinder, Partner, Haustiere habe, und wenn es abends dunkel ist und die Schatten der Kerze durch den dunklen Raum tanzen, dann ist es ein bisschen so, als wäre ich nicht so alleine und als würde meine Vergangenheit und die Personen, die ich mit dieser verbinde, mit im Raum. In jedem Land auf dieser Welt, das ich bereist habe und in dem ich die Möglichkeit hatte, zünde ich in einer Kirche ebenfalls eine Kerze an. Auch wenn ich nicht gläubig bin, ist das auch ein Zeichen von Respekt für meine Ahnen, ohne die es mich ja nicht geben würde. - Weinen:
Ob versteckt hinter einer Sonnenbrille oder alleine zu Hause – weinen ist mein Go-to, wenn die Trauer zu sehr schmerzt. Dafür lege ich mich oder setze ich mich auf den Boden, die Couch, mein Bett, und dann fließen die Tränen. Ich muss dann immer an ein Zitat von der dänischen Schriftstellerin Karen Blixen denken: „Die Lösung für alles ist Salzwasser. Schweiß, Tränen oder Meer.“ Ich fühle mich danach immer ein wenig leichter, und sei es nur ein Mü. - Spazierengehen:
Ich gehe gerne spazieren – eigentlich immer, aber wenn es mir extrem schlecht geht und ich sehr traurig bin, dann gehe ich immer in den Wald. Dem Wald ist es völlig wurscht, wie ich gerade aussehe, ob ich Geld auf dem Konto habe oder nicht, ob ich einen Job habe oder nicht, ob ich traurig oder wütend oder zufrieden bin, der Wald ist einfach immer da. Es hat etwas beruhigendes in meinem ganz eigenen Tempo, Schritt für Schritt einen Weg zu gehen, sehr symbolisch für den Trauerprozess. Und die Jahreszeiten erinnern mich immer daran, dass alles ein Kreislauf ist. - Zum Grab gehen:
Ich gehe nicht oft ans Grab meiner Eltern. Einfach aus dem Grund, weil ich beide dort nicht spüre. Sie leben in meiner Erinnerung und in meinen Geschichten weiter. Wenn ich zum Grab gehe, dann ist es, um mich vor einer Reise abzumelden oder wieder anzumelden. Vielleicht ähnlich, wie ich es im echten Leben mit einem Anruf machen würde. Um Weihnachten herum gehe ich auch immer ans Grab. Es ist zwar immer ein scheiß Gefühl, seine Eltern an einem Grab zu Weihnachten zu besuchen, und gleichzeitig ist es meine Realität.
Was können Angehörige oder Freunde konkret tun, um Trauernden wirklich beizustehen?
Das Lustige ist, dass dieses “konkret tun” ein Irrglaube ist, mit dem ich hiermit sehr gerne aufräumen würden. Es gibt natürlich die Möglichkeit, bei den Dingen, mit denen man in einem Todesfall konfrontiert wird, z. B. eine Beerdigung zu organisieren, Unterstützung anzubieten oder ein paar Aufgaben zu übernehmen.
Wichtig hierbei ist aber, die Wünsche, der Person, die trauert, zu beachten und zu akzeptieren. Ich finde, das aller, aller Wichtigste ist einfach da sein, zuzuhören, nicht zu versuchen, irgendwas an der Situation ändern zu wollen, zu fixen, die Gefühle des anderen auszuhalten und dabei auch auf seine eigenen Grenzen zu achten. Das Perfide ist nämlich, dass viele Angehörige/Freunde in der Zeit nach dem Tod da sind und dann nach der Beerdigung eben die Anrufe, Nachrichten, Besuche enden und dann beginnt die Person aber erst richtig zu begreifen, dass jemand gestorben ist, und dann geht die Trauer meistens oft erst richtig los.
Trauer & Neuanfänge
Du sprichst oft Neuanfänge trotz oder gerade mit der Trauer. Wie gelingt dir dieser Balanceakt zwischen Verlust und Weiterleben?
Das Harte an einem Verlust ist, auch wenn meine Welt sich gerade völlig verändert / auseinander gebrochen ist, so dreht sich die äußere Welt immer weiter. Als mein Vater im Oktober 2024 gestorben ist, bin ich nach einer Woche wieder in die Arbeit gegangen. Aber aus dem Grund, weil ich alleine zu Hause schier verrückt geworden bin vor Trauer und ich einfach auch mal wieder was anderes tun wollte, als weinen. Es wäre aber auch okay gewesen, hätte ich mich weiter krankschreiben lassen. Dass nur 1 Tag bei einem Trauerfall in der engsten Familie gesetzlich geregelt ist, ist eh völliger Schwachsinn, aber gut.
Ich finde auch, dass das Weiterleben auch parallel läuft mit dem Verlust. Die Trauer hört ja nicht auf, nur weil ich weiterlebe.
Gibt es eine Erfahrung, die dir gezeigt hat, dass Trauer nicht nur zerstört, sondern auch neue Wege eröffnet?
Ja, meine ganze Trauererfahrung der letzten 30 Jahre. Meine Trauer ist und war nämlich auch ein Persönlichkeitsentwicklungsprozess (die natürlich auch noch weitergeht). Dass ich zum Beispiel mit dem Schreiben angefangen und mir in diesem Bereich ein Coaching gebucht habe, hat mich zu zwei neuen Freundinnen geführt und zu einem Schreibretreat mit Daniel Schreiber. Das sind alles ganz tolle und bereichernde Erfahrungen, die ich nur durch das Schreiben machen durfte und darf.
An diesen Punkt wäre ich nie gekommen, wäre nicht meine Mutter vor 30 Jahren gestorben, so bitter es auch ist. Es ist Teil meiner Geschichte. Allerdings meiner Vergangenheit. Weil Leben findet ja im Jetzt statt.
Mit deinem „Trauer ABC“ gibst du Betroffenen Orientierung. Was steckt dahinter, und was sollen Menschen daraus mitnehmen?
Also da musste ich jetzt ein bisschen lachen bei der Frage. Ich finde nämlich nicht, dass ich irgendeine Form von Orientierung mit dem Trauer ABC gebe 🙂 Ich zeige vielmehr auf, was ich alles schon unternommen habe, um meine Trauer loszuwerden, denn von A, wie Akkupunktur bis Z, wie Zahnarzt war da nämlich alles dabei. Der Punkt ist, dass ich immer jemanden oder etwas im Außen gesucht habe, dem ich meine Trauer geben kann und der/die macht die dann weg. Dass das so nicht funktioniert, wurde mir spätestens nach dem Auflegen von Heilsteinen klar. Das Ding ist, dass Trauer einfach auch verdammt große Angst macht, und wenn dann da jemand kommt und mir ein “happy life” verspricht, so wie das in meiner Zeit bei einem spirituellen Coach der Fall war, dann springe ich da natürlich drauf an. Und manchen Menschen hilft das ja auch. Ich habe einfach ne Menge ausprobieren müssen, um zu verstehen, dass Schmerz und Trauer niemand einem abnehmen kann.
Wenn du deinem jüngeren Ich – dem Mädchen, das seine Mutter verloren hat – heute etwas sagen könntest: Welcher Satz wäre das?
Ich wünschte, ich hätte da jetzt einen zutiefst Sinn machenden und höchst spirituellen Satz… Vielleicht doch. Nämlich dieser:
Über Irene Kasapis
Ich bin Autorin und Mensch mit Trauer Erfahrung. Ich kenne mich deshalb so gut mit dem Thema Trauer aus, da ich in meiner frühen Jugend einen schweren Verlust erlitten habe. Das Thema Trauer wurde unter den Teppich gekehrt und hat mich psychisch krank gemacht. Ein langer Trauer-und Selbstfindungsprozess hat mich zum Schreiben geführt.
Blog: Auf dem Blog “Zwischen Trauer und Magier” widme ich mich dem sensiblen Thema Trauer und dem Leben danach. Ich nutze das Schreiben als Mittel, um die oft unausgesprochenen Gefühle und Gedanken rund um Verlust, Schmerz, Hoffnung und Heilung sichtbar zu machen.
Instagram Account @irene_kasapis
Zu Gast in Podcasts:
Podcast Name: „SHEroes“ Titel: Trauer und Trauerbewältigung Link
Podcast Name: „Sorry, not my Business“ Titel: Tabuthema Trauer: Der unsichtbare Schmerz Link